Psychoanalyse Sigmund Freud´s - damals und heutiger Stellenwert
Hermann Hesse (Dezember 1931) zur Psychoanalyse Sigmund Freud´s:
" sie spiele als Erlebnis und heftige Anregung eine wichtige Rolle, aber ihre seitherige Entwicklung in der Praxis habe völlig enttäuscht ! "
........ die analysierende Psychologie verschwand mehr und mehr aus Hesse´s Schriften (von Klein und Wagner bis zum Goldmund) .......... !
Das war 1931. Wir haben jetzt 2009. Welche Entwicklung hat die Psychoanalyse seit dem genommen. Welche Rolle spielt sie in unserem heutigen Alltag. Spielt sie in ihrer ursprünglichen Form überhaupt eine Rolle ?
eine erste Betrachtung:
Die Frage zu beantworten, welche Bedeutung die Psychoanalyse heute - aus meiner subjektiven Sicht - habe, erfordert zwei Anmerkungen:
1. zur Frage, was mit "Psychoanalyse" gemeint ist, und
2. zur Frage, welche Bedeutung die Psychoanalyse in den letzten Jahrzehnten hatte.
Zu 1.: Wenn ich Studenten frage, was ihnen zum Begriff Psychoanalyse einfällt, so kommen in der Regel folgende Voten: "Freud", "Traum", "Therapie auf der Couch". Später: "Freudscher Versprecher", "das Unterbewusste" oder "Unbewusste" und "Ödipus-Komplex".
Die meisten Einfälle beziehen sich auf die Psychoanalyse als Behandlungsmethode und als Theorie. Historisch ist die Psychoanalyse aus der Behandlung von Patienten mit seelischen Störungen entstanden; ihr Vorläufer war die Hypnose, die experimentell zeigte, dass das Seelenleben des Menschen aus bewussten und unbewussten Anteilen besteht.
Eine spezifische Behandlungsmethode anzuwenden, setzt voraus, eine Theorie oder Modelle über die Psyche des Menschen und ihre Störungen (Psychopathologie) zu haben. Die Psychoanalyse bietet -und das ist in der Psychologie unumstritten -die umfassendste Theorie über das Seelenleben des Menschen an. Freud nannte sie "Metapsychologie". Die Psychoanalyse ist aber auch eine Forschungsmethode, die sich der hermeneutischen (verstehenden) und der naturwissenschaftlich (messenden und erklärenden) Methoden bedient. Sie ist aber nicht nur eine Methode der Erforschung des Individuum, sondern auch von Beziehungen zwischen Menschen, von Gruppen, Massen, sozialen Systemen, Gesellschaften und Kulturen. Vor allem die Forschungsergebnisse zur Psychologie der Gruppe und Masse haben wichtige Erkenntnisse geliefert. Behandlungsmethode, Theorie über die menschliche Psyche und Forschungsmethode waren und sind auch heute noch drei wesentliche Bereiche der psychoanalytischen Theorie und Praxis.
Zu 2.: Von Anbeginn stand die Psychoanalyse immer wieder in einer heftigen Kritik. Anfangs war es die Rolle der Psychosexualität, die die Wissenschaften und Kreise des Bürgertums empören ließ, oder ihr aufklärerisches Potenzial, das totalitäre Regime fürchteten; später waren es Teile der Psychologie und Medizin, die z. B. das Unbewusste (das Herzstück und Alleinstellungsmerkmal der Psychoanalyse) als ein unwissenschaftliches Konstrukt ablehnten. Insbesondere die Lerntheorie (später: Kognitionswissenschaften), die sich ab den 80-ziger Jahren im wissenschaftlichen Betrieb mit den verschiedenen Formen von Verhaltenstherapien etablierte, tat die Psychoanalyse und ihre Therapie als unwissenschaftlich und damit als "Auslaufmodell" ab. In den USA und andernorts war es Mode, sich im öffentlichen Diskurs an einem "Freud-Bashing" zu beteiligen.
Diese Entwicklung ist als Gegenbewegung auf die Hochzeit der Psychoanalyse zwischen 1960 und 1985 zu verstehen, in der der Anspruch der Psychoanalytiker und die Erwartungen an die Psychoanalyse zur Beseitigung des individuellen Leids und gesellschaftlicher Missstände sehr hoch gesteckt waren. Idealisierung ist bekanntermaßen auch ein Abwehrmechanismus, um Konflikten aus dem Wege zu gehen.
Neben der Krankenbehandlung liegt die Bedeutung der Psychoanalyse auch in ihrer Theorie über den Menschen, speziell seiner seelischen Natur. Was sind förderliche und was sind hinderliche Entwicklungsbedingungen für ein Kind? Was geschieht in der konfliktreichen Zeit der Pubertät und Adoleszenz? Welche Lebensereignisse und Krisen erfahren Erwachsene? Wie erlebt der Mensch im hohen Alter seine körperlichen, psychischen und sozialen Veränderungen? Wie sind somatische, psychische und soziale Regressionen eines erwachsenen Menschen zu verstehen? Welche Rolle spielt die Begrenztheit des Lebens, der Tod und seine Verleugnung?
Die psychoanalytische Theorie hat damit auch eine präventive Funktion für das Individuum und seine Gesellschaft. Sie will - so Freud - die "Liebes- und Arbeitsfähigkeit" des Menschen verbessern oder gar erst herstellen.
Das Menschenbild der Psychoanalyse ist dabei nicht so idealistisch, wie das der "Humanistischen Psychologie", wo der Mensch von Natur aus als gut angesehen wird. Diese Wertung nimmt die Psychoanalyse nicht vor. Sie sieht den Menschen als Teil der gesamten Natur mit seinen Triebkonflikten und Triebschicksalen (lieben, begehren), seinen Beziehungserfahrungen und -wünschen (jemanden lieben und geliebt werden) sowie seinem Bedürfnis nach Selbstverwirklichung (ich bin liebenswert). Insbesondere der Umgang mit seinen aggressiven und destruktiven Trieben und den sich daraus ergebenden Konflikten und Traumatisierungen stellt eine stetige Herausforderung dar. Dazu genügt ein Blick in die reale Welt, wenn wir die politischen und gesellschaftlichen Nachrichten verfolgen.
Welche Bedeutung hat nun die Psychoanalyse heute aus meiner Sicht?
Meine schlichte Antwort ist: Die gleiche, die sie im Laufe der Geschichte hatte. Die Psychoanalyse hat Vieles zum Verständnis menschlichen und gesellschaftlichen Verhaltens beigetragen. Sie hat den Blick des Menschen auf sich selbst geschärft. Ob der Mensch aber aus dieser Erkenntnis entsprechende Konsequenzen zieht, ist eine andere Frage.
eine weitere Betrachtung:
Auch in der Psychoanalyse ist die Bedeutung mancher Ideen, die für immer Licht auf ihre wissenschaftliche Zukunft zu werfen schienen, verblaßt, und wir stehen stattdessen vor der Notwendigkeit, uns vorzutasten zum Entwurf einer zeitgenössischen Psychoanalyse, einer Psychoanalyse, die ihre Konzepte weiter entwickelt, die fähig wird zum Dialog mit anderen Wissenschaften und die das Licht der Überprüfung dessen, wie in ihr wissenschaftlich gedacht und wie professionell gehandelt wird, nicht scheut.
Angelika Ramshorn-Privitera ist Diplom-Psychologin und Psychoanalytikerin, April 2008
HINTERGRUND
Freuds Psychoanalyse ist in der Medizin noch immer von Bedeutung
Von Matthias Lukasczik
Ärzte Zeitung, 05.05.2006
Kontroverse Ideen hinterlassen oft einen nachhaltigen Eindruck. Bei der Psychoanalyse ist das nicht anders - in vielerlei Hinsicht hat sie die Geistes- und Kulturgeschichte einer ganzen Epoche geprägt.
Auf vielfältige Weise hat die Psychoanalyse das wissenschaftliche Denken bis in die heutige Zeit beeinflußt: Das Konzept unbewußter Prozesse hat Eingang in die moderne Neuro- und Kognitionswissenschaft gefunden.
Freuds Gedanken zur Bedeutung lebensgeschichtlicher Erfahrungen für die Persönlichkeit und den Umgang mit Belastungen haben das Verständnis für menschliche Entwicklung erweitert. Und Freud ist es auch gewesen, der auf die Bedeutung seelischer Konflikte für die psychische Gesundheit hingewiesen hat.
Viele neue Verfahren basieren auf der Psychoanalyse
Es gibt zwar viel Kritik, doch von Bedeutung für die heutige Medizin und Psychologie ist die Psychoanalyse allemal. Sie ist eine wesentliche Säule in der ambulanten wie der stationären psychotherapeutischen Versorgung. Aber: Allein schon von "der" Psychoanalyse zu sprechen, führt in die Irre.
Es gibt heute eine große Vielfalt psychodynamisch orientierter Therapieverfahren. Dazu zählt die klassische Langzeitanalyse ebenso wie die tiefenpsychologisch fundierte Therapie nach C. G. Jung. Auch neue Formen der psychodynamischen Kurzzeittherapie gehören dazu.
Pychoanalyse und andere Therapien ergänzen sich.
Und die Bewährung als Therapieform?
In der Psychotherapieforschung haben analytische Behandlungsansätze häufig weniger gut abgeschnitten als andere Methoden. Besonders für die hochfrequente Langzeit-Psychoanalyse sind kaum gesicherte Erfolge dokumentiert.
Das ist ein zentraler Kritikpunkt vieler Freud-Skeptiker: Es sei sträflich vernachlässigt worden, die Wirksamkeit der Psychoanalyse als Heilmethode nach wissenschaftlichen Kriterien unter Beweis zu stellen. Psychotherapeutische Interventionen würden auf der Basis unzureichend abgesicherter Theorien erfolgen.
Bei Persönlichkeitsstörungen ist Psychoanalyse wirksam
In der jüngsten Zeit hat sich das Bild indes etwas gewandelt. Neue Studien haben frühere Befunde der Psychotherapieforschung relativiert, es hat sich gezeigt: Unterschiede in der Effektivität verschiedener therapeutischer Ausrichtungen reduzieren sich, wenn man berücksichtigt, welcher theoretischen Orientierung sich der Forschende verpflichtet fühlt. Auch gibt es Belege für die Wirksamkeit kürzerer Formen der psychoanalytischen Therapie.
Zum Beispiel in der Behandlung von Patienten mit Persönlichkeitsstörungen oder Depressionen: Eine psychodynamische Therapie hat sich in Studien von Falk Leichsenring von der Uni Göttingen als effektiv für die Therapie von Menschen mit Persönlichkeitsstörung erwiesen (American Journal of Psychiatry, 160, Juli 2003). Genauso gut wie die Verhaltenstherapie schneidet die psychodynamische Therapie auch bei Depressionen ab (Clinical Psychology Review, 21, 2001).
In der Psychiatrie und der Psychotherapie kommt eine analytisch orientierte Psychotherapie zudem bei Zwangsstörungen oder psychosomatischen Erkrankungen zum Einsatz. Generelle Voraussetzung für diese Form der Behandlung ist ein hohes Maß an Introspektionsfähigkeit der Patienten - ist doch die Psychoanalyse ein Verfahren, das auf die Einsicht der Patienten in die eigene Psychodynamik setzt.
Und die aktuelle Situation?
Derzeit ist die therapeutische Psychoanalyse im Wandel. Man will sich (überzeugt oder gezwungenermaßen) der empirischen Absicherung stellen. Das geschieht zum Beispiel in Form einer stärkeren Standardisierung des Vorgehens und der Verwendung von Manualen, aber auch in einer präziseren Beschreibung therapeutischer Verfahren. Dazu zählt etwa die sogenannte "Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik".
Erkennbar ist auch der Trend, sich anderen therapeutischen Richtungen zu öffnen. So integriert beispielsweise die Interpersonelle Therapie, die gute Erfolge bei depressiven Patienten zeigt, Elemente aus anderen Therapieschulen. Neue psychodynamische Ansätze bei Angststörungen beziehen verhaltenstherapeutisch orientierte Elemente mit ein. Auch in der Behandlung bei sexuellen Funktionsstörungen scheint ein Miteinander verhaltenstherapeutischer und psychodynamischer Techniken das Mittel der Wahl.
Allerdings: Unumstritten ist all das in der psychoanalytischen Zunft sicher nicht, und mancher orthodoxe Analytiker wird den Neuerungen skeptisch gegenüberstehen. Aber vielleicht lassen sich diese eigenwillige Wissenschaft und die Anforderungen der modernen Empirie am Ende doch in Einklang bringen.